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Stimming: Wenn beruhigendes Verhalten zu Selbstverletzung führt

Ich nutze in diesen Beitrag nur die weibliche Form. Natürlich sind aber alle Geschlechter angesprochen. Außerdem werde ich in diesem Artikel offen über Selbstverletzung sprechen und auch ein Beispielfoto einfügen. Wenn dich das triggern könnte, dann vermeide diesen Beitrag bitte, um dich selbst zu schützen.
Dieses Mal will ich dir gerne erklären, warum dein Kind (oder du) manche vielleicht seltsam erscheinende Dinge tut, wenn es ihm nicht so gut geht. Du lernst, was Stimming und selbstverletzendes Verhalten sind, wie es vom einen zum anderen kommen kann und wie du versuchen kannst, es zu unterbrechen und zu lenken. 

1. Was ist Stimming?

Stimming (das „St“ wird wie in „psst“ gesprochen) ist ein Begriff für Verhaltensweisen, die beruhigen. Zum Beispiel spielen manche Autistinnen mit ihren Haaren. Andere streicheln sich selbst über ihre Arme. Wieder andere machen Geräusche. Kurz um, Stimming ist fast so einzigartig wie der autistische Mensch auch. Der Grund, warum sie stimmen, ist aber immer der gleiche: Es beruhigt, zentriert und fühlt sich einfach gut an. Dass sich Autistinnen in unserer stressigen Welt und dem sozialen Miteinander oft überfordert fühlen, ist nichts Neues. Demnach wird dir auch schnell auffallen, dass du oder dein Kind irgendetwas immer wieder zur Beruhigung tun. Stimming kommt bei Autismus so gut wie immer vor.

2. Was ist Selbstverletzung (SVV)?

Selbstverletzendes Verhalten (SVV) umfasst alle Dinge, die dafür sorgen, dass man sich selbst weh tut. Viele Autistinnen sind so dauer-überreizt, dass sie sich gar nicht mehr spüren können. Um aber die Kontrolle nicht komplett entgleiten zu lassen, kann es sein, dass sie sich selbst schlagen, an den Haare ziehen, kratzen, Fingernägel kauen und vieles mehr. 

Normalerweise streben die Autistinnen nicht danach, sich zu verletzen. Sie versuchen, sich selbst wieder zu regulieren. Leider erwischen sie oft zu viel des Guten. Hier kann ich mal wieder ein persönliches Beispiel einbringen. Ich habe jahrelang etwas betrieben, das den Namen „Skin Picking Disorder“ (SPD) oder „Dermatillomanie“ trägt. In Deutschland ist es gar nicht als eigenständiges Störungsbild anerkannt. Hierbei werden gesunde Hautbereiche aufgekratzt. Das kann an der Kopfhaut sein, den Armen, Rücken, Beine, Gesicht…also überall, wo man hinkommt, und Haut finden kann. Ich hatte das Gesicht und die Ohrmuschel bevorzugt. Nachdem ich fertig war mit kratzen, setzten die Scham und Schuld ein. Wie hatte ich mich zugerichtet?! Und warum? Ich verstand es nicht. Erst mit meiner sehr verspäteten Diagnosestellung, kam etwas Erleuchtung bei mir an. Aber das ist eine andere Geschichte.
Allgemein gehen Autismus und Selbstverletzung leider oft Hand in Hand. Das liegt daran, dass Autisten oft so überfordert sind, dass sie sich einfach „fühlen“ wollen. Dafür braucht es dann stärkere Reize.

3. Wie kann Stimming zu Selbstverletzung führen?

Nehmen wir mal an, dass eine Autistin das Gefühl mag, wenn sie über ihre Haut streicht. Sie fühlt sich weich an, ist warm und hilft ihr, sich auf etwas zu konzentrieren. Die Anspannung steigt über die Zeit und irgendwann, streichelt sie härter. Sie merkt, dass das hilft und behält dieses Verhalten bei. Jedoch wird irgendwann die Haut wund. Am Anfang tut es weh, aber sie spürt, dass es ihr trotzdem hilft, sich zu entspannen. Also macht sie weiter. Irgendwann braucht sie den stärkeren Reiz und eine Dermatillomanie ist geboren. Irgendwann tut es auch nicht mehr weh, wenn man zu kratzen beginnt. Die Autistin fällt in eine Art Trance und sie kann nicht mehr aufhören. Am Ende kommt aber wieder die Schuld und Scham. Du kannst hier mehr über Skin Picking Disorder: Verstehen, Unterstützen und Verbessern lesen.

Sofia Weavind
Ohne Make-up, mit abgeheilter Haut
Skin picking disorder, Dermatillomanie, Sebstverletzung
Beispiel einer SPD

Die Menschen, die mit ihren Haaren spielen, beginnen eventuell irgendwann damit, sich diese auszureißen. Sie bekommen kahle Stellen am Kopf oder anderen Körperregionen. Eine Trichotillomanie beschränkt sich nicht, wie SPD auch nicht, auf die Kopfbehaarung, sondern nutzt jegliche Körperbehaarung.

Jegliche Art von selbstverletzenden Verhalten äußert sich im Nachhinein in einem großen Leidensdruck. Die Menschen sind über sich selbst schockiert und schämen sich. Sie versuchen, ihre Störung und die Ergebnisse zu verstecken. 

4. Was man tun kann, damit dieses selbstverletzende Verhalten reduziert wird

Idealerweise kommt es gar nicht erst zu so einer extremen Überreizung, dass die Autistin so extrem gegensteuern muss. Mit Zeit, Geduld und Therapie kann es ihnen gelingen, sich selbst besser zu spüren und den Bedarf an SVV zu verringern. Was auch manchmal hilft, ist die Hände bewusst zu etwas anderem zu lenken. Aber Vorsicht! Oft ist der Ersatz dann ungesteuert essen, was wieder andere Probleme mit sich bringt. Für Dinge, die genutzt werden können, habe ich den nächsten Abschnitt vorbereitet. 

5. Skills bei SVV

Skills sind eine Gruppe von Verhaltensweisen und Techniken, die Anspannung abbauen können, ohne dabei dem Nutzer Schaden zuzufügen.
In der Psychotherapie werden sie genutzt, um dem Menschen Zeit einzuräumen, dass er eine bewusstere Entscheidung treffen kann. Für psychische Erste Hilfe: Skills zur Bewältigung psychischer Notfälle habe ich einen Blogbeitrag verfasst. Hier werden einige Skills übersichtlich aufgelistet und erklärt.

Leichte Anspannung benötigt andere Skills als eine starke Anspannung. Gerne möchte ich hier kurz die Spannungskurve besprechen. Nehmen wir eine Spannung von 0 bis 100 an. Diese lässt sich gut in Zehnerschritte unterteilen. 0-30 zeigt unsere Grundspannung. Diese ist immer da und erlaubt uns aufzustehen, zur Schule oder Arbeit zu gehen, usw.
30-70 ist der angespannte Bereich. Hier greifen leichtere Skills, wie zum Beispiel duschen gehen, spazieren gehen, malen, Atemübungen, Meditation, ein Instrument spielen oder ähnliches. Ich habe außerdem hier eine recht große Liste vom Klinikum Westmünsterland gefunden.
Bei 70 und drüber sagt man, liegt der „point of no return“ oder Umkehrgrenzpunkt. Hier ist die Anspannung so hoch, dass der Mensch stärkere Skills benötigt oder sich gar nicht mehr kontrollieren kann. Idealerweise kommt die Autistin niemals hier hin. Wenn sie sich aber doch hier findet, könnte ihr Riechen an Ammoniak, einen Eiswürfel auf dem Bauch schmelzen lassen, schnipsen von einem Haarband am Handgelenk oder andere starke Reize helfen. Vorsicht aber! Diese Skills können bei Autismus unter anderem auch zu Selbstverletzung führen.

6. Hab Geduld beim Erlernen von Skills

Skills erlernen und dann auch zielgerichtet anwenden zu können, ist nicht einfach. Bitte sei geduldig und geh liebevoll mit deinem Kind oder dir um. Hier sind ein paar Tipps, wie du mehr Erfolg hast:

  • Übe die Techniken und Methoden ein, wenn die Anspannung gering ist. So ist die Erfolgschance höher, wenn sie gebraucht werden
  • Verzeih deinem Kind oder dir, wenn es nicht auf Anhieb klappt
  • Bleib dran und teste unterschiedliche Skills. Nicht jeder passt zu jedem

Ich hoffe, dass du aus diesem Beitrag ein paar Ideen und ein besseres Verständnis mitnehmen konntest. Ich freue mich über dein Feedback als Kommentar unter diesem Artikel oder über meine Kontaktmöglichkeiten. Wenn du Wünsche für einen Beitrag zu einem bestimmten Thema hast, melde dich

Vielleicht möchtest du manche Begriffe nochmal nachlesen? Ich habe hier ein Glossar erstellt.

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